ALTER SCHLACHTHOF

Alter Schlachthof St. Marx oder die verlorene Wildnis der Stadt

erschienen in UM:DRUCK, Juli 2010, Artikel von Reinhold Egerth

Christine Pirkers druckgraphische Objekte widerspiegeln den langsamen Verfall des alten Schlachthofs St. Marx, einer verloren gegangenen Idylle, die eigentlich keine war.

Mächtig thront der riesige architektonische Komplex T-Mobile-Center des österreichischen Architekten Günther Domenig auf dem ehemaligen Gelände des alten Schlachthofs St. Marx. Beinahe nichts erinnert mehr an die jahrzehntelang leer stehenden Stallungen, wäre nicht in den Neunzigern die ehemalige Viehmarkthalle unter Denkmalschutz gestellt und parallel zur Errichtung des Gebäudekomplexes unter großen Aufwand renoviert worden. Trotz aller Bemühungen ein Relikt vergangener Tage, ein Stück Geschichte einer Stadt zu erhalten, kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, als stünde hier ein „vergoldeter“ Fremdkörper inmitten modernster Architektur, losgelöst von seinen ehemaligen Lebensadern.

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Foto: faksimile digital wien

Nichts von all dem ist bei Christine Pirkers ersten Erkundungen des Geländes Mitte der 90er-Jahre spürbar. Aus der anfänglichen Neugierde für dieses seit den 70er-Jahren verlassenen Schlachthofgeländes mit seinen beiden lang gestreckten Stallungen sowie riesigen leer stehenden Viehmarkthalle entwickelt sich eine regelrechte Spurensuche inmitten all der faszinierenden Tristesse.

Nicht unerwartet konnte man so manchen Stadtbewohner beim emsigen Abladen alter Möbel oder sonstigem Schrott beobachten. Andere wiederum wurden fündig und schafften für sie brauchbare Utensilien wieder weg, es entstand ein regelrechter Umschlagplatz. Ordentlich aufgelegte Matratzen und Kartons ließen Schlafplätze vermuten – herumliegende Getränkedosen, Zigarettenstummel, Essensreste und batteriebetriebene Radios an ausgelassene Gelage denken. Das Gefühl des hastigen fast fluchtartigen Verlassens der Gebäude blieb. Zahlreiche Überbleibsel dieses Aufbruchs fanden sich in den Nebengebäuden, vor allem Bücher mit interessanten Eintragungen über Auslandsfleischbezieher, Kontrolluntersuchungen und Seuchenprotokolle sowie überall in den  Räumlichkeiten verstreute Metallplaketten mit eingestanzten Erkennungsnummern.

Diesen langsamen Niedergang hat Christine Pirker fotodokumentarisch festgehalten, zunächst ohne konkrete künstlerische Absicht. Erst Jahre später durch den Abbruch der Stallungen und der nachfolgenden Neubebauung des Geländes, das eine starke Veränderung des gesamten Areals mit sich gebracht hat, ist die Idee einer künstlerischen Umsetzung gewachsen. Entstanden ist eine Serie von atmosphärisch dicht verwobenen Papierobjekten, die als Gesamtwerk einen fast authentischen Einblick auf die Gebäuderuinen zulassen. Grundlage der Darstellungen bilden die freskenhaft malerischen, sandigen Papieroberflächen, stellenweise durchzogen mit zarten Kaltnadelstrichlagen. Sie geben die eigentliche Stimmungslage, den Charakter des Vergänglichen, des Verblassens der Erinnerungsstücke wider. Die fotorealistischen Sujets wie perspektivisch übersteigerte Raumführungen von Hallen oder übereinander geschichteten Straßenlampen wirken wie hingehaucht. Der druckgraphische Prozess ordnet sich der gesamtmalerischen Wirkung unter, verbindet sich zu einem einzigen Farbgefüge und verschmilzt mit dem raffiniert eingesetzten unaufdringlichen Objektrahmen zu einer unabdingbaren Einheit. In subtil aneinander gereihten Motivketten erzeugen die Objekte eine enorme plastische Präsenz an der Wand. Aus den ursprünglichen Momentaufnahmen erschließt sich durch den Gestaltungsprozess ein eigener Kosmos voller assoziativer Gedankenketten – nie plakativ sondern in sich ruhend, zeitlose Zeugen mit leichtem Hang zur Sentimentalität.

Im Rahmen der Ausstellung „mutiple matters“ hat Christine Pirker für die Werkserie „Alter Schlachthof Wien“ den Woyty-Wimmer-Preis des Künstlerhauses Wien erhalten.

Christine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOFChristine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOFChristine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOFChristine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOFChristine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOFChristine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOFChristine Pirker aus der Serie ALTER SCHLACHTHOF

Alter Schlachthof: Serie von 30 ArbeitenDruckgraphik-Papierobjekte (Größe w. o. 22 x 30 x 8cm, Größe klein 16 x 21 x 8cm),  2008–2010, Fotos: faksimile digital wien

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